Vom Leben in einer scheinbar anderen Zeit

Lasst euch erzählen, wie ich mich innerhalb kurzer Zeit an die fremde Umgebung und die Kultur in einem Land, in dem die Uhren anders zu ticken scheinen, gewöhnt habe.

Ich weiß nicht, ob es an dem Land liegt oder an mir selbst – auf jeden Fall scheinen die Uhren in der Ukraine viel langsamer zu ticken als in Deutschland. Ich habe das Gefühl, bereits eine Ewigkeit von zuhause weg zu sein. Tatsächlich sind es erst drei Wochen.
Es mag sein, dass es an den vielen neuen Eindrücken liegt, die ich während dieser Zeit hier gesammelt habe. Wobei ich sicher auch nicht falsch damit liege, dass die Zeit für die Menschen hier eine andere Bedeutung zu haben scheint, ganz nach dem Motto "Komm ich heut nicht, komm ich morgen".
Da war die Sache mit meinem Zimmer, in das ich eigentlich schon letzte Woche einziehen sollte. Nun hieß es aber zum wiederholten Male, es wäre noch nicht eingerichtet. Und so wie es aussieht, wird da demnächst auch nichts passieren. Was soll’s, so schlafe ich weiterhin auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum und lebe aus gepackten Koffern. Hat mehr Abenteuer-Feeling. ;)

Ich bin überrascht, wie schnell ich mich an mein "neues" zuhause gewöhnt habe. Ich hatte kaum mit Heimweh zu kämpfen – was nicht heißen soll, dass ich meine Freunde und meine "WG-Familie" nicht vermissen würde!


Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich bisher nur wenig von dem verstehe, was man zu mir sagt und gleich gar nichts von dem, was die Anderen miteinander reden.


Und an das Duschen im Dunkeln und mit kaltem Wasser, weil ich abends meist die Letzte bin, die hier duschen geht. Und ich denke leider nicht immer daran, eine Taschenlampe mitzunehmen.


Mit dem Essen habe ich mich ebenfalls angefreundet. Oder sagen wir, mir reicht ein kurzer Blick, um zu selektieren, was für meinen Magen genießbar ist, manchmal sogar richtig gut schmeckt. Im Zweifelsfall gibt es zu jeder Mahlzeit Weißbrot dazu, sogar mit Butter.


Auch mit den bösen Blicken der Köchinnen kann ich gut umgehen, wenn ich wieder meinen Brei nicht aufgegessen bzw. gar nicht erst angerührt habe. Zumal mir schon mehrfach ein lieber Betreuer mit mitleidigen Blick ein zusätzliches Butterbrot mit einem Stück Käse hat zukommen lassen.

 

Es sind oft nur solche kleinen Zuwendungen, ein freundlicher Blick mit der Nachricht "Mach dir nichts draus", die den Ärger über das Unverständnis der hier nicht sonderlich kinderfreundlichen "Erzieher" weit übertreffen. Ich wusste, dass ich viel Toleranz mitbringen muss, um mit der Kultur und dem Leben in diesem Land umgehen zu können. Allerdings habe ich das Gefühl, dass von Seiten der Erwachsenen im Kinderheim meist nur wenig Verständnis für mein "Anderssein" da ist. Und trotzdem, die fremde Umgebung und die Menschen, die sich in meinen Augen manchmal sehr merkwürdig verhalten, sie sind mir innerhalb kurzer Zeit schon beinahe vertraut geworden.

 

Nur an eines kann und mag ich mich nicht gewöhnen: An die elenden Glocken von dem Kloster, das neben dem Heim errichtet ist. Ich habe noch kein System dahinter erkannt, wann und wie lange die ihre fürchterliche Musik komponieren, aber häufig leider morgens bevor mein Wecker klingelt. Mein Frust über diese Glocken mag auch mit meiner Unsympathie gegenüber dem Kloster zusammenhängen, das begierig auf das Gelände des Kinderheims ist, um das Kloster selbst weiter ausbauen zu können. Merkwürdig, denn heißt es in der Bibel nicht "Kindern gehört das Reich Gottes"? Anstatt ihnen eine gute Zukunft zu ermöglichen, scheint hier das einzige neue, was man in den letzten Jahren gebaut hat, die zahlreichen Kirchen mit den goldenen Kuppeln zu sein.

Ich bin ja schon ganz gespannt, wie nächstes Jahr die Fußball-EM laufen wird. Ich habe gelesen, dass es für die Ukraine schon mehrfach Drohungen gab, die Spiele nicht hier stattfinden zu lassen, sollte sich nicht bald an ihrer Infrastruktur etwas verbessern. Auch die Stadien, hieß es, seien noch nicht fertig… Ich hoffe trotzdem, noch irgendwo Tickets ergattern zu können. =)

 

Ein großes Highlight war für mich meine erste "Fahrradtour". Wer mich kennt, weiß, dass ich leidenschaftlich gerne mit dem Rad unterwegs bin. So habe ich den ersten Moment nach mehrwöchiger Pause wahnsinnig genossen, ungeachtet der Straßenverhältnisse und des uralten, mir viel zu großen Drahtesels, auf dem ich saß. Der erste Teil meines Wegs führte mich durch den Wald. Und diese Wege sind in Deutschland auch meist sehr holperig, wobei das mit einem gut gefederten Fahrrad besser zu ertragen ist.
Dann kam ich ins Dorf. Auch hier war die "Straße" mit Schlaglöchern übersät, oft nur ein Schotterweg. Gut, dachte ich, außer Orts kann es nur noch besser werden.

Irgendwann ließ ich das Ortsausgangsschild hinter mir. Und was soll ich sagen? Da war nix mit "besser werden". Vielleicht sollte ich eher vom Gegenteil reden.
Vielleicht fragt ihr euch jetzt, weshalb ich dann von einem Highlight gesprochen habe?

Ich will's euch erklären. Während ich diese halbverwilderte Straße im Nirgendwo entlang fuhr, begriff mein Herz plötzlich, was bisher nur mein Kopf gewusst hatte: Ich bin hier in einem komplett anderen Land, weit weg von meinem vertrauten Heim. Und das "weit weg" beziehe ich nicht nur auf die Entfernung, sondern mehr auf die Zustände in diesem Land. Ich weiß nicht, ob diese Gefühle zu dem gehörten, was von Fachleuten als "Kulturschock" bezeichnet wird. Ich empfand es auf jeden Fall nicht als Schock, nein, ich fand es toll. Mir ging nicht etwa durch den Kopf "Ich will wieder nach Hause!", sondern eher so was wie "Na dann packen wir’s mal an!"

 

Sehr genossen habe ich auch den letzten Mittwoch. Der 24. August wird in der Ukraine als Tag der Unabhängigkeit von der Sowjetunion gefeiert, dieses Jahr das 20-jährige Jubiläum.
Bereits am vorherigen Sonntag fand deshalb im Dorf Golowtschinzi eine Veranstaltung statt. Ira bezeichnete sie mit Englischwörterbuch in der Hand als "Festival". Vielleicht werde ich sie bei Gelegenheit nach Deutschland einladen und ihr zeigen, was man dort unter einem Festival versteht.
Letztendlich war das Ganze so eine Art Danksagung, bei der an einige Dorfbewohner, die vermutlich besondere Leistungen vollbracht haben, Urkunden ausgegeben worden. Es fand in einem "Club" – ebenfalls Iras Bezeichnung – statt, einem Raum doppelt so groß wie ein Wohnzimmer. Er war völlig überfüllt, bald dementsprechend warm und stickig. So wird mir niemand verübeln, dass ich froh war, als der "Jugenddorfchor" sein letztes Lied gesungen hatte.

Für Mittwoch und Donnerstag holte mich Lena nach Khmelnitzkij. Um mir einen (von vielen anderen =) Gefallen zu tun, nahm sie auch Ira mit, die glücklich war, dem Heim und den Dorf für einige Zeit zu entkommen.
Lena selbst baut seit einigen Monaten täglich ein Trampolin in einem ihrem Wohnhaus nahegelegenen Park auf. Gerade an diesem Festtag wollte sie ihre Eltern, die ihr dabei helfen, nicht alleine damit lassen.
Vorausschauend hatte sie Shanna und Katharina informiert, die sich gerne Zeit nahmen, um mit mir durch die Stadt zu ziehen. Auch Bogdan, der einst im Kinderheim gelebt hatte und nun in Khmelnitzkij studierte, war mit dabei.

 

So liefen wir durch die in ukrainischen Farben geschmückten Straßen, aßen Pizza und kaum eine halbe Stunde später Eis, warfen einige Blicke auf die zahlreichen Verkaufsstände und blieben schließlich beim Theater vor einer großen Bühne stehen. Hier hatte zuerst ein Orchester gespielt, später eine Rockband.
Am Abend gab es ein tolles Feuerwerk. Als der Menschenandrang nachgelassen hatte, probierte auch ich mich auf Lenas Trampolin aus. Schließlich war es lange nach Mitternacht, als wir bei Lena schlafen gingen.

Den nächsten Tag nutzten wir, um noch einige Erledigungen in der Stadt zu machen. Lena hatte uns zuvor "Plintschikis" zum Frühstück gebraten. Ein hier sehr typisches Gericht, das es schon mehrfach im Kinderheim gab, aber niemals so köstlich, wie diese von Lena. Übersetzt werden sie als Pfannkuchen bezeichnet, wobei ich noch nicht rausgefunden habe, was sie mit deutschen Pfannkuchen gemein haben. Man isst Plintschikis in der Regel mit "Smetana" (saurer Sahne), die hier eine Art Allzwecksauce zu sein scheint.

Auf dem Weg zurück ins Kinderheim hielten wir beim Supermarkt. Eigentlich hatte ich gehofft, mir hier ein paar Brötchen mitnehmen zu können. Letztendlich gab ich mich mit einer Nutella zufrieden. Mal sehen, wie lange die reicht. =)

 

Ich sehe, ich schweife wieder ab. Trotzdem möchte ich euch noch vom Wochenende erzählen. Lena hatte mich darauf hingewiesen, dass in einem Golowtschinzi nahe gelegenen Ort ein Mittelalterfest in einer Burgruine stattfinden sollte. Also machte ich mich am Sonntag mit Ira und zwei Fahrrädern auf den Weg. Erfreulicherweise ging es entlang einer Straße, auf der es sich dann doch etwas besser fahren ließ - wenn mein Fahrrad auch diesmal zu klein war und die Gangschaltung einen Knall hatte. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob man auf dieser Straße überhaupt mit dem Rad fahren durfte, den Hupen der Autos nach zu urteilen… Aber ich hatte gehofft, Ira wusste, wo lang sie mich führte.

Wir fuhren etwa eine dreiviertel Stunde. An der Burg angekommen stellten wir fest, dass schon allein das Betreten des Geländes, das an anderen Tagen jedem offen stand, Eintritt kostete. Glücklicherweise weit mehr, als ich dabei hatte… Denn damit beginnt der verrückteste Teil der Geschichte. Wir haben Lena angerufen. Sie sprach – per Telefon! – mit einem Wächter am Eingang, den sie ebenso wenig kannte wie er uns. Sie sagte ihm wohl, das Ira aus dem Heim sei und ich zu Besuch aus Deutschland. Ohne zu zögern winkte er uns am Ausgang herein. Während ich noch ungläubig den Wächter anstarrte, nahm mich Ira an die Hand und zog mich hinterher.


Vielleicht mag es in der Ukraine nicht so regelmäßig gutes Essen geben und die Erziehung der Kinder noch strenger ablaufen als bei uns. Aber die Gastfreundlichkeit übertrifft die unsere bei weitem.

 

Das Burgfest selber war wahnsinnig interessant. Selbst einige Besucher hatten sich in mittelalterliche Kleidung geworfen. Es fanden Ritterkämpfe statt. Auf einer Bühne spielte eine Band, dann tanzten Hofdamen zu altertümlicher Musik.
Es gab Räume, in denen von mittelalterlicher Kleidung, über Werkzeuge bis hin zu einem Skelett alles ausgestellt war.
Das gesamte Burggelände war von den Besuchern begehbar – Ich meine wirklich das ganze Gelände! Im krassen Gegensatz zu Deutschland gab es hier keine Absperrungen, die das Betreten von irgendwelchen Wegen aufgrund von Sturz- oder Verletzungsgefahr verboten. Dabei konnte man hier "Wege" entlangklettern, die lange keine Wege mehr waren. Man konnte sich auf die zum Teil eingebrochene Burgmauer setzen, an deren anderen Seite es weit in die Tiefe ging - selbst da gab es kein Geländer!

Im Laufe des Nachmittags trafen wir einen Bekannten Iras. Ich weiß nicht, worüber die Beiden gesprochen haben. Er führte uns kurze Zeit später zu einigen Pferden, auf denen sich die Besucher fotografieren ließen. Er bot mir an, aufzusteigen. So ritt ich schließlich selbst einige Runden über das Gelände.

 

Fragt mal in Deutschland auf einem ähnlichen Fest, ob ihr ohne Führung die Ponys dort reiten dürft. Ihr werdet den Besitzern hundertmal versichern können, dass ihr selbst Reiter seid – man wird es euch nicht erlauben!

 

Schließlich gab uns der Bekannte noch eine Suppe aus, dann fuhren wir nach Hause.

 

Ihr werdet den Eindruck gewonnen haben, dass ich hier tatsächlich nur Urlaub mache. Ihr liegt damit nicht ganz falsch. Doch zumindest bemühe ich mich täglich, meinen russischen Wortschatz zu erweitern. Und auch wenn dieser noch lange nicht reicht, um aufschlussreiche Gespräche zu führen, so habe ich es heute geschafft, drei Mädchen an die Hand zu nehmen und mit ihnen ein Windspiel zu basteln. Ich war erstaunt, wie gut ich den Beiden mit wenigen Worten und viel Gestik meine Ideen vermitteln konnte. Das macht mir Mut, so etwas auch mit einer größeren Gruppe von Kindern zu probieren.


Schade ist nur, dass es hier anscheinend nicht viel Bastelmaterialien gibt. Ich habe mir zwar ein paar kleine Sachen von zuhause mitgebracht. Aber in diesem Heim leben über 100 Kinder, darunter auch viele Kleine, die an einer solchen Abwechslung offensichtlich viel Freude haben.

Mal schauen, vielleicht hilft mir meine Fantasie auch ein wenig weiter. Für das Windspiel war ich heute vorneweg mit den Kindern im Wald, um brauchbare Äste zu sammeln. Das Ergebnis sieht zwar nicht sehr professionell aus, aber die Mädels sind stolz drauf!


Zudem habe ich von einem vorausschauenden Bekannten ein tolles Buch mit vielen Spielideen geschenkt bekommen. Man findet darin genug schöne Anregungen, für die man keine große Menge an Materialien benötigt. Ich freue mich darauf, etwas davon mit den Kindern auszuprobieren, wenn gleich es womöglich auch eine größere Herausforderung sein wird, ihnen zu erklären, worum es geht.


Morgen wird hier nach drei Monaten Sommerferien die Schule wieder losgehen. Davon dann beim nächsten Mal mehr. =)

 

Liebe Grüße aus der nach wie vor warmen und sonnigen Ukraine!

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