Luft holen (Teil II: Marina)

Marina ist ein Resort hundert Kilometer westlich von Alex. Hier verbringt die Elite aus Kairo ihren Sommer. Dann, wenn das Thermometer um die 40 Grad im Schatten anzeigt. Denn hier am Mittelmeer lässt es sich auch in den heißesten Monaten gut aushalten. Sind die Schulferien zu Ende, kehrt man wieder in die Hauptstadt zurück. Die Ferienanlagen am Mittelmeer stehen dann fast leer. Und die Strände werden stattdessen von den Bewohnern der kleineren Orten der Umgebung aufgesucht. Und von uns.

Hier geht's zu Teil I: Alexandria.

 

Am nächsten Morgen bin ich die erste, die erwacht. Ahmed will uns erst gegen Mittag abholen, um mit uns an einen Strand außerhalb von Alexandria zu fahren. Also packe ich mein Tagebuch ein und verlasse leise das Hostel. In einem kleinen Shop an der Straße hole ich mir eine Packung Kekse. Am Strand bestelle ich mir noch einen Capuccino dazu. Während ich mein unglaublich gesundes Frühstück genieße, höre ich die Wellen gegen die Brandung schlagen. Ich bemerke einmal mehr, wie gut es tut, nicht das ständige Hupen im Ohr zu haben. Obwohl Alexandria im Vergleich zu Leipzig noch immer riesig ist, wirkt die Stadt so viel friedlicher, ruhiger, gesetzter als Kairo.

 

Ich beobachte die Jogger, die auf dem Fußweg an der Küste entlanglaufen. Ein durchgehender Fußweg, das sollte unbedingt betont werden. So einen hätte ich in Kairo auch gerne. Zwar gibt es entlang der Uferstraße am Nil auch einen Fußweg, jedoch nach Kairoer Manier. Ständig unterbrochen, durch Müllhaufen und Parklücken blockiert. Und der Blick auf den Nil wird meist durch teure Restaurants, Sportclubs und Anlegestellen für Luxusschiffe blockiert. So zumindest in Maadi. Joggen gestaltet sich da sehr herausfordernd. Zumal ich befürchte, dass die dicke Luft an der mehrpurigen Straße mein Lungenkrebsrisiko ums zehnfache erhöht.

 

Gegen Mittag gesellen sich die beiden anderen Mädels zu mir, wenig später holt uns Ahmed und sein Kumpel mit dem Auto ab. Wir fahren zunächst an den Bahnhof, um uns Tickets für die Rückfahrt am Abend zu besorgen. Ich schlage Ahmeds Warnung in den Wind und nutze die Gelegenheit, um auf Toilette zu gehen. Ich habe schon viele Toiletten in meinem Leben gesehen. Schlimmer als die Löcher in der Ukraine kann es ja nicht sein. Nun ja, die Löcher in der Ukraine hatten immerhin eine Spülung. Die Löcher, die ich hier am Bahnhof vorfinde, sind anstatt einer Spülung mit einem Wasserschlauch ausgestattet. Leider scheint es einigen Schwierigkeiten zu bereiten, die Toilettenschüssel zu treffen. Der Boden ist zur Hälfte überschwemmt. Zudem ist es fast unmöglich, ein Waschbecken zu erreichen. Zahlreiche Männer drängen sich um die wenigen Becken und waschen dort nicht nur ihre Hände und Gesicht, sondern verrenken sich unvorstellbar, um auch ihre Füße unter den Wasserhahn zu halten. Ahmed erklärt mir später, dass es sich um die spirituelle Reinigung vor dem Gebet handelt. Und tatsächlich fällt mir ein, dass einige Männer auf einem Teppich vor den Toiletten knieten und dort gegebet haben.

 

Wir fahren nicht weit, bis wir wieder halten. Diesmal an einem riesigen Einkaufscenter, um Geld abzuheben und etwas zu essen für unterwegs zu kaufen. Außerdem wollen die anderen auch noch einmal auf Toilette. Auf eine ordentliche Toilette. Ich staune nicht schlecht, als ich sehe, was genau sie sich unter einer ordentlichen Toilette vorstellen. Glänzende Fließenböden, elektrische Händetrockner, riesige Spiegel - Toiletten, wie man sie in einem Fünf-Sterne-Hotel findet. Und im Gegensatz zu den Toiletten am Bahnhof steht hier niemand am Eingang, und verlangt Eintritt. Hier gehen also die Reichen auf Toilette. Naja, und eben einkaufen.

 

Für uns geht es von hier aus weiter an den Strand von Marina. Marina ist ein Resort hundert Kilometer westlich von Alex. Hier verbringt die Elite aus Kairo ihren Sommer. Dann, wenn das Thermometer um die 40 Grad im Schatten anzeigt. Denn hier am Mittelmeer lässt es sich auch in den heißesten Monaten gut aushalten. Die Temparaturen messen hier im Durchschnitt zehn Grad weniger als in Kairo. Sind die Schulferien zu Ende, kehrt man wieder in die Hauptstadt zurück. Die Ferienanlagen am Mittelmeer stehen dann fast leer. Und die Strände werden stattdessen von den Bewohnern der kleineren Orten der Umgebung aufgesucht. Und von uns.

 

Als wir aus Alexandria herausfahren, sehen wir zunächst links und rechts Industriegelände. Wir kommen an fürchterlich stinkenden Mülldeponien vorbei und riesigen Becken, in denen die Industrieabwasser gesammelt werden. Irgendwo dazwischen streckt sich ein Schornstein zum Himmel, der wie eine riesige Kerze brennt. Ahmed meint, man müsse die Abgase verbrennen, da sie ansonsten zu giftig für die Menschen wären.

 

Nach einigen Kilometern ändert sich dann das Panorama. Zu unseren Rechten taucht wieder das Meer in der Ferne auf. Moment, das Meer? War das Wasser gestern auch schon so türkis? Für einen Moment halte ich es für eine Sinnestäuschung. So perfekt kann das Meer auch hier nicht aussehen. Aber wir täuschen uns nicht. Die Sonne lässt das Wasser hier tatsächlich in einer Farbe leuchten, wie man sie sonst nur auf am Computer bearbeiteten Fotos sieht. Leider müssen die meisten sich mit diesem Anblick genügen: Die ganze Küste bis nach Marina ist zugebaut von teuren Ferienanlagen. Die normale Bevölkerung hat hier keinen Zugang zum Wasser.

Wir erreichen den Strand von Marina deutlich später als geplant. Zwei Stunden können wir bleiben, dann müssen wir wieder aufbrechen, damit wir unseren Zug rechtzeitig erreichen. Die Zeit reicht allerdings, um ein paar Mal in die riesigen Wellen zu springen, sich an dem furchtbar salzigen Wasser zu verschlucken und einer kleinen Qualle die Hand zu reichen. Und trotzdem starten wir am Ende zu spät.

 

Hakenschlagend fahren wir zurück nach Alexandria, vorbei an LKWs, die selbstverständlich ohne Licht unterwegs sind und immer wieder kurzzeitig bremsend, um einem Schlagloch auszuweichen. 20.06Uhr halten wir am Bahnhof. Der Zug soll theoretisch 20.10Uhr starten. Schnell verabschieden wir uns von Ahmeds Kumpel, dann rennen wir Richtung Bahnhofsgebäude.

 

Es dauert einige Minuten, bis wir das richtige Gleis finden. Aber Gott sei Dank steht der Zug noch. Obwohl es auch reizvoll gewesen wäre, in einen fahrenden Zug zu springen. Die Türen werden sowieso meist nicht geschlossen. Womöglich wären uns allerdings die Menschen, die sich im Eingangsbereich der Waggons in den niedrigeren Klassen drängen, in die Quere gekommen.

 

Während wir uns noch zu unserem Abteil durchdrängen, wird der Wagen plötzlich heftig erschüttert. Wir geraten kurz ins Schwanken. Als ich aus der offenen Tür sehe, bemerke ich, dass wir bereits fahren. Scheinbar hätten wir keine Minute später da sein dürfen.

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